Irgendwie geht die Fahrt auf der ICE-Strecke zwischen Hamburg und Berlin an diesem Samstagmorgen besonders schnell vorüber. „Hamburg liegt jetzt an der Spree“- dieser Slogan der deutschen Bahn aus der Werbung für irgendein Sonderticket geistert in meinen Gedanken herum, als wir uns an diesem Samstagmorgen in aller Herrgottsfrühe viel schneller als erwartet im Berliner Hauptbahnhof wiederfinden. Berlin ist eindrucksvoll, die Stadt ist groß, laut, frech, anonym; sie ist eben Hauptstadt, und das weiß sie auch. Unser erstes Ziel in Berlin ist allerdings nicht etwa der Reichstag, wie man es von Demonstrationstouristen wie uns erwarten würde, sondern die Herz-Jesu-Kirche, eine mittelgroße Pfarrei im Herzen Berlins, so versteckt wie wunderschön. Dort soll das Wochenende starten, das die Jugend für das Leben rund um den „Marsch für das Leben“ für uns organisiert hat.
Auf dem Weg zeigt sich mir eine neue Seite der Stadt: gemütliche, beinahe ramschige Ecken, Miethäuser und mit Plakaten, Bildern und Flyern gepflasterte Fassaden prägen das Bild einer Gegend, in der die „richtigen“ Berliner ein vermutlich ganz normales Leben führen. Vom Bahnhof kommend wirkt dieser Übergang unwirklich, beinahe gegensätzlich: dort die riesigen, repräsentativen Plätze und Institutionen der deutschen Demokratie, hier das ganz normale Leben, und irgendwo dazwischen, verborgen und dennoch wirkmächtig, die Kirche. Unsere ist bereits gut gefüllt, als wir sie erreichen, es haben sich um die hundert Jugendliche und junge Erwachsene aus allen Teilen des Landes und den verschiedensten Gruppierungen versammelt. Neben den Jugendlichen in den grünen Jugend-für-das-Leben-Shirts und einigen ganz neuen Gesichtern sind da auch Mitglieder der Jugend 2000, einer internationalen katholischen Jugendorganisation. Ein ziemlich bunter Haufen also, der sich hier kurze Zeit später um den Tisch des Herrn versammelt. Und trotzdem fühle ich mich von Beginn an wohl, die Gruppe ist freundlich und aufgeschlossen, wenn auch nicht mehr allzu viel Zeit für Gespräche bleibt, denn eine kurze Mittagspause später geht es zu Fuß und per Straßenbahn auf den Weg ins Zentrum, genauer gesagt vor den Reichstag, wo der diesjährige „Marsch für das Leben“ pünktlich um 13:00 Uhr mit einer großen Kundgebung eröffnet wird.
Selten dürfte man so zentrale Bereiche der Hauptstadt so leer antreffen; leer vom üblichen dreispurigen Verkehr, von Autos, Touristenbussen und Straßenbahnen, dafür gefüllt mit Menschen, die weiße Kreuze tragen und Plakate mit lächelnden Babygesichtern in die Höhe recken. „Wir stehen hier für etwa 40 Millionen Kinder, die weltweit jedes Jahr vor der Geburt sterben müssen. Wir stehen hier für die Menschen mit Krankheiten und Behinderungen, für die Menschen, die sich um diese Menschen kümmern. Wir stehen hier für Frauen, die durch eine Schwangerschaft in Konflikt geraten und Hilfe brauchen, und wir stehen auch hier für Frauen und Männer, die von einer Abtreibung und deren Folgen betroffen sind. Wir sind hier, um mit dieser großen Demonstration klarzustellen, dass große Teile der Gesellschaft diese Entwicklung nicht wollen.“, fasst die Moderatorin und Bundesvorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle, Alexandra Linder, zusammen. Aus dem Publikum erklingt Beifall, noch etwas verhalten, aber zustimmend. Es folgen Beiträge aus allen Bereichen des deutschen und internationalen Lebensschutzes. Bischöfe, Betroffene, (ehemalige) Bundestagsabgeordnete und Vertreter ausländischer Jugendorganisationen betreten die Bühne, geben Zeugnis, mahnen, loben, ermutigen. Währenddessen mischen wir uns unter das Publikum, schauen beim Infostand der Jugend für das Leben vorbei, holen Kennenlern- und Wiedertreffgespräche nach. Langsam verliere ich mich in der Masse, die Reden und Grußworte gehen ineinander über, ich bekomme nicht mehr alles mit. Und dennoch: Die Botschaft, die hier transportiert werden soll, ist klar und deutlich, und sie erklingt eben nicht nur von der Bühne: die Menschen auf dem Marsch für das Leben strahlen sie aus. Die vielen Kinder auf dem Platz, die Familien, die Priester und auch unsere gut gestimmte Gruppe, all das scheint zu sagen: Seht her, vor dem Leben braucht man keine Angst zu haben, es anzunehmen ist keine Qual und keine Zumutung, sondern Freude. Diese einfache Freude prägt mein Bild vom Marsch für das Leben. Sie erinnert mich an das Erlebnis einer jungen Pro-Life-Aktivistin aus England, die von einer Frau berichtete, die im Schwangerschaftskonflikt in den Straßen vor ihrer Wohnung einen ähnlichen „Marsch für das Leben“ nur vom Fenster aus beobachtet hatte und sich daraufhin spontan für ihr Kind entschied. Ein Jahr darauf erschien sie sogar mit ihrem neugeborenen Baby beim dortigen „Marsch für das Leben“, um mit zu demonstrieren. Ein richtiges Happy End und ein Beleg dafür, dass die Freude, die der „Marsch für das Leben“ ausstrahlt, das wichtigste Kapital der Lebensschützer ist.
Freude, das heißt hier nicht, oberflächlich gut drauf zu sein, das meint nicht ein leichtfertiges „Wird schon gut gehen“. Die Freude des Lebensschutzes ist mehr eine Zuversicht, eine Zuversicht trotz aller Schwierigkeiten und Anstrengungen, die mit der Geburt eines behinderten Kindes, mit der Pflege eines schwerkranken Menschen, mit der Annahme einer ungewollten Schwangerschaft verbunden sind. Niemand bestreitet, dass diese Wege steinig sind. Wie symbolisch dafür tragen die Demonstranten des Marsches weiße Kreuze, die nicht nur an die verstorbenen Ungeborenen erinnern; mich persönlich erinnern sie auch an eben die Kreuze all derer, die den anstrengenderen Weg des Lebens gewählt haben. Und trotzdem ist da Freude auf Seiten der Lebensschützer, und auch wenn ich keinen gefragt habe, bin ich mir sicher, dass der Glaube vieler dieser Menschen dafür verantwortlich ist. „Wir haben Spaß, und ihr habt nur Jesus“- dieser, wohl als Beleidigung gedachter Schlachtruf der Gegendemonstranten wird so zum Kompliment für viele der Teilnehmer. Denn dieser Jesus ist ihre Freude und ihr Antrieb, sich unermüdlich für das Leben einzusetzen trotz der vielen weißen Kreuze, die es mit sich bringen kann.
Das alles klingt so, als müsse man zwangsläufig Christ sein, um sich für das Leben einzusetzen. Dass dem nicht so ist, stellt später ausgerechnet die Predigt des Regensburger Bischofs Dr. Rudolf Voderholzer eindrücklich klar. Denn „nicht erst Gottes Wort und unser Glaube verpflichten uns, die Stimme zu erheben für das Leben, sondern erst schon einmal die Vernunft und das natürliche Sittengesetz, dass uns nahelegt, mit anderen so umzugehen, wie wir es uns für uns selbst wünschen.“ Hier klingt der gute alte kategorische Imperativ an, der jeden Menschen in die Pflicht nimmt, sich für das Leben einzusetzen; genau wie unser Grundgesetz, dass jedem Menschen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie eine unantastbare Würde zuspricht. „Es geht um die Anerkenntnis dieser Rechte anderer, die meinem Handeln Grenzen setzen. Und es geht letztlich um das Funktionieren des Rechtsstaates.“ Kategorischer Imperativ, Grundgesetz und Rechtsstaatlichkeit dürften für jeden Menschen gute Gründe darstellen, vom Lebensschutz überzeugt zu sein.
Es ist Abend geworden über Berlin, und doch sind der Marsch für das Leben und das Programm des Wochenendes an dieser Stelle keineswegs vorbei. Für den Abend ist neben einem ökumenischen Gottesdienst zum Abschluss des Marsches für uns als Teilnehmer des Wochenendes noch eine Podiumsdiskussion mit jungen Pro Life Aktivisten aus England, Irland und Österreich geplant, zu der wir uns zwei Stunden später im kleinen, aber gemütlichen Pfarrsaal neben der Herz-Jesu-Kirche wiederfinden. Und auch dort ist der Abend noch lange nicht zu Ende. In Windeseile werden Stühle gerückt und Kabel verschaltet, auf den Tischen türmen sich wenig später Pizzakartons, Gläser und Getränke; die Stimmung ist fröhlich, trotz der Anstrengungen des Tages. Und nach einer Stunde Abendessen und Austausch betreten auch schon die Gäste eine etwas provisorische, aber funktionstüchtige Bühne: Christine D’Arcy von der Youth Defense aus Irland, Thomas Brüderl von der Jugend für das Leben Österreich und Emily Milne von der Alliance of Pro Life Students in England. Alle drei sind Jugendliche, alle drei strahlen etwas aus, das mich fasziniert; vielleicht ist es ihre Freude, ihr stilles, unkompliziertes Lachen, vielleicht ihr Einsatz und ihre Leidenschaft, mit der sie sich neben Studium, Arbeit und Alltag für ein Anliegen einsetzen, das von vielen noch immer für ein Randthema gehalten wird, teils belächelt, teils verachtet wird. Beeindruckend auch ihre Professionalität, mit der sie auf die ihnen gestellten Fragen eingehen, die Gesetzgebung ihrer Heimatländer diskutieren, und wie selbstverständlich sie über die Erfahrungen in der eigenen Aufklärungsarbeit berichten. Der Abend offenbart mehr und mehr eine für ihr junges Alter ungewöhnlich tiefgreifende Beschäftigung mit dem Thema Lebensschutz; in den Antworten und Erzählungen steckt viel Herzblut und echtes Wissen. Und dank eben dieser Expertise bleibt die Diskussion nicht bei einer oberflächlichen Betrachtung des Phänomens Abtreibung stehen. Sie geht auf Ursachen der Abtreibung ebenso ein wie auf Lösungsvorschläge und die gesetzliche Lage; vieles höre ich tatsächlich zum ersten Mal. So berichtet Emily zu meinem Erstaunen, dass geschätzt zwei Drittel aller Abtreibungen auf misslungene Verhütung zurückgehen. Abtreibung werde gewissermaßen auch als „Backup“ im Falle erfolgloser Verhütung benötigt, für mich eine sehr wichtige Erkenntnis, um die Ursachen der Abtreibung besser zu verstehen.
Aber trotz der durchaus ernsten Themen und der leichten Müdigkeit der Teilnehmer ist von Melancholie nichts zu spüren. Im Gegenteil: es herrscht auch hier eine einfache, aber deutlich zu spürende Freude. Christine strahlt regelrecht, als sie von der Wende erzählt, die das Engagement für den Lebensschutz in ihr ehemals ziemlich gewöhnliches Studentenleben gebracht hat. Und auch bei Thomas verspürt man Begeisterung, wenn er von den Pro-Life-Märschen durch Österreich, von Plakataktionen und Schuleinsätzen, von den Kontakten zur Pro-Life Bewegung in den USA erzählt. An diesem Abend gehe ich ziemlich beeindruckt nach Hause, bzw. in die Unterkunft. Das Engagement dieser Jugendlichen bringt mich zum Nachdenken. Was tue ich eigentlich gegen Abtreibung? Bisher habe ich mich damit begnügt, halt irgendwie „gegen Abtreibung“ zu sein. Aber das reicht nicht aus, wie mir jetzt klar wird. Denn Abtreibung existiert nicht irgendwo in unseren Gedanken, sie ist real, sie findet statt, jede Minute, jetzt gerade, überall auf diesem Planeten. Ein abscheuliches Verbrechen, bei dem unschuldiges Blut fließt, und dass millionenfach, so dramatisch sich das anhört. Und ich habe all diese Zeit weggeschaut. Schlechtes Gewissen? Schon, aber noch mehr sind durch all die Zeugnisse, Gespräche und Bilder dieses Wochenendes eine Art Gerechtigkeitssinn und irgendwie auch ein gewisser Veränderungswille in mir aufgewacht, von denen ich nicht wusste, dass sie in mir existieren. Dass aus mir jemals noch ein politisch engagierter Mensch wird, wage ich zwar zu bezweifeln, aber ich bin mir sicher, dass ich mich auch anders für das Leben einsetzen kann: mit Gebet, mit Arbeit, im Freundeskreis, irgendwie; Hauptsache nicht mehr passiv. Und tatsächlich, am nächsten Morgen findet sich die Gruppe zu einer Besprechung in Arbeitsgruppen zusammen, wir tauschen Handynummern, sammeln Ideen, schmieden Pläne. Und es gibt viel zu tun. Neben der Gruppe für Medien- und Öffentlichkeitsarbeit, zu der ich mich geselle, gibt es auch eine Gruppe für Schuleinsätze, eine zur Organisation deutschlandweiter Aktionen, eine für Infostände. All das dürfte für Menschen mit den verschiedensten Talenten genügend Möglichkeiten bieten, sich auch praktisch für das Leben unserer kleinsten Brüder und Schwestern einzusetzen. Denn genau das sind sie: sie sind unsere kleinen Brüder und Schwestern, auch wenn sie meist nur unter abstrakten Begriffen wie „ungeborenes Leben“ geführt werden.
Es ist Sonntag, genau 14:00 Uhr, vor dem Zugfenster unseres Abteils sehe ich die Umrisse der Stadt in der Horizontlinie verschwinden. Mein Kopf schwirrt voller Eindrücke und unfertiger Gedanken. Langsam beginne ich mit meinen Notizen über die Gesprächsrunde, den Marsch für das Leben, die jungen Aktivisten und über die Freude. Nicht nur bei mir hat dieses Wochenende Spuren hinterlassen; und ich bin sicher, dass mit Hilfe dieser Spuren die Jugendlichen, der „Marsch für das Leben“ und der Lebensschutz auch in Zukunft trotz aller Schwierigkeiten und Widerstände weiter überzeugen werden.